Die Perfektionismusfalle: Warum wir hineinfallen und wie wir wieder herauskommen
Das Streben nach Perfektion ist etwas, mit dem sich viele meiner Patient*innen immer wieder beschäftigen. Sie versuchen, dass im Haushalt immer alles Tip Top aussieht, verbringen Stunden damit zu putzen oder zu dekorieren, nur am Ende dann kleinlaut zu sagen, dass man ja aber doch nicht "vom Boden essen könne". Andere wiederrum überarbeiten eine Präsentation fünfmal, bevor sie sich sicher genug fühlen, sie zu präsentieren. Für einige von uns ist Perfektionismus keine gelegentliche Erscheinung, sondern eine Lebenseinstellung.
Perfektionismus trägt ganz klar zur Belastung der psychischen Gesundheit bei. Daher ist dieser "Charakterzug" auch sehr häufig bei Menschen zu finden, die an Depressionen, Ängsten oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Wie hängt das zusammen? Nun, wenn der Chef Ihnen einen extra Stapel Akten auf den Tisch legt, der noch erledigt werden muss, ist das an sich schon sehr unschön, wenn Sie dann aber noch den inneren Anspruch haben, dass diese Akten perfekt bearbeitet werden müssen, dann ist ein pünktlicher Feierabend in weite Ferne gerückt. Sie gehen dann natürlich auch davon aus, dass Sie nicht nach Hause gehen können, bevor die Akten perfekt UND fertig bearbeitet sind. Dies führt langfristig zu einer Überschreitung der körperlichen Belastungesgrenzen, was eine Ursache für das Entstehen von psychischen Erkrankungen darstellt.
Warum also tappen wir trotzdem in die Falle des Perfektionismus?
Für manche von uns liegt es daran, dass wir glauben, dass wir erfolgreicher sind, wenn wir nach Perfektion streben. Es ist zwar nichts Falsches daran, erfolgreich sein zu wollen, aber das Problem bei dieser Denkweise ist, dass sie uns zum Scheitern verurteilt. Das Problem mit dem Perfektionismus ist nämlich, dass er unerreichbar ist - niemand ist perfekt. Wenn wir also nach Perfektion streben und unser Ziel nicht erreichen, fühlen wir uns als Versager obwohl wir eigentlich etwas erreichen wollten, was unerreichbar ist. Gleichzeitig machen wir uns innerlich immer mehr Druck, dass es beim nächsten Mal "doch endlich perfekt" werden muss.
Ein weiterer verlockender Aspekt am Perfektionismus ist die Illusion von Kontrolle. Menschen fühlen sich sicher, wenn sie das Gefühl haben, dass Dinge unter Kontrolle sind. Je mehr man also versucht, perfekt zu sein, desto größer ist auch das Gefühl von Kontrolle über einen positiven Ausgang des Ereignisses. Die Überarbeitung der Präsentation für den Chef zum 5. Mal dient vor allem dazu, Sicherheit darüber zu schaffen, dass "alles gut gehen wird". Je öfter die Präsentation überarbeitet wird, desto (vermeintlich) sicherer wird der Präsentierende, dass er sich nicht blamiert oder der Chef ein Lob ausspricht. Bis zu einem gewissen Grad geht diese Rechnung auch auf. Ganz nach dem Motto "Kontrolle bringt Sicherheit". Allerdings folgt danach, dass mehr Kontrolle, nicht mehr Sicherheit bringt, sondern eher zu einer größeren Unsicherheit führt. Dies hat dann zur Folge, dass Perfektionisten auch keinen Endpunkt finden, an welchem sie mit gutem Gewissen sagen können "ich bin fertig", sondern häufig einfach der Tag der Präsentation erreicht ist und sie deshalb aufhören müssen, die Präsentation zu perfektionieren. Dieses Vorgehen, kostet unheimlich viel Zeit und Energie.
Letztendlich spielt auch die Vermeidung des unangenehmen Gefühls von Scham eine große Rolle. Sich zu schämen ist für die meisten Menschen so unangenehm, dass sie es fast nicht aushalten und demzufolge alles tun, um das Auftreten dieses Gefühls zu vermeiden. Hinzu kommen noch unangenehme Erfahrungen mit beschämenden Situationen im Elternhaus oder in der Schule, die man am liebsten vergessen würde. An diese fühlt man sich aber immer erinnert, wenn Scham im Erwachsenenalter wieder auftritt. Ein Trick zur Vermeidung von Scham ist daher, erst gar keine Siuationen zu erzeugen, in denen man sich schämen könnte und zwar durch Perfektion. Der Gedanke dahinter: "Wenn ich nur alles richtig und einwandfrei mache, dann können die Leute ja nichts Negatives sagen". Demzufolge führt ein perfektionistischer Lebenstiel vermeintlich dazu, dass wir ein Leben ohne Momente der Scham führen können. Dieser Plan geht allerdings häufig nach hinten los.
Die Ursprünge des Perfektionismus
Wenn wir an Perfektionismus denken, halten wir ihn oft für eine Persönlichkeitseigenschaft - etwas, das manchen Menschen angeboren ist und anderen nicht. In Wirklichkeit ist Perfektionismus jedoch eine erlernte Verhaltensweise, die oft das Ergebnis äußerer Faktoren ist. Hierzu zählen etwa elterlicher Druck oder anhaltende Kritik, akademischem Druck oder sogar der Wunsch, die Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen.
Außerdem könnten Sie überlegen, wer denn in Ihrer Familie ähnliche perfektionistische Züge aufweist. Meist gibt es nämlich mehrere Menschen in einer Familie (Mama, Papa, Oma oder Opa), die versuchen alles perfekt zu machen und dabei manchmal sogar noch in Konkurrenz treten. Wenn Kinder dann ihre perfektionistischen Verwandten als Vorbilder ansehen, findet ein Modelllernen von bsp. perfekter Haushaltsführung statt. Der Standard, den die Eltern setzen, wird nach und nach zum eigenen Standard, den man versucht auch im eigenen Haushalt aufrecht zu erhalten.
Darüber hinaus kann Perfektionismus auch eine Kompensationsstrategie darstellen, um mit sehr chaotischen Bedingungen in der Kindheit klarzukommen. Wenn das Elternhaus durch Unstruktiertheit, Unordnung und Vernachlässigung geprägt war (weil die Eltern eventuell psychisch erkrankt waren), dann suchen die Kinder nach einem System, um Kontrolle und Sicherheit herzustellen. Genauigkeit, Präzision, Ordnung und Strukturen, die die Kinder sich selbst überlegen, können ihnen helfen, mit dem Chaos klarzukommen. Sie bauen quasi einen Gegenentwurf zur elterlichen Lebensführung, weil sie sich damit zunächst wohler fühlen.
Der Preis des Perfektionismus
Perfektionismus fordert seinen Tribut für unsere geistige und körperliche Gesundheit. Perfektionisten leiden häufiger an Angstzuständen und Depressionen und haben ein erhöhtes Risiko, Essstörungen und andere Formen der Selbstverletzung zu entwickeln. Perfektionismus kann sogar zu körperlichen Erscheinungen wie chronischem Stress und Spannungskopfschmerzen führen.
Natürlich beschränken sich diese Risiken nicht nur auf die geistige und körperliche Gesundheit - Perfektionismus kann auch negative Folgen für unsere persönlichen Beziehungen haben. Menschen, die darauf fixiert sind, perfekt zu sein, haben oft Schwierigkeiten, Aufgaben zu erledigen, weil sie mit den Ergebnissen nie zufrieden sind. Dies kann zu Reibereien mit Freunden und Familienmitgliedern, aber auch mit Kollegen und Vorgesetzten führen. Schließlich ist es schwer, produktiv zu sein, wenn man seine ganze Zeit damit verbringt, perfekt zu sein!
Der andauernde Druck, den wir uns selbst tagtäglich machen, damit alles "perfekt" ist, kann zu einem Teufelskreis führen, in dem wir uns selbst gegenüber immer kritischer werden, was zu Gefühlen der Unzulänglichkeit und einem geringen Selbstwertgefühl führt. Wenn Sie sich in diesem Teufelskreis wiederfinden, ist es wichtig, einen Ausweg zu finden.
Wie man den Perfektionismus überwindet
Wenn Sie bereit sind, sich aus der Falle des Perfektionismus zu befreien, gibt es ein paar Dinge, die Sie tun können, um damit anzufangen.
Versuchen Sie Selbstmitgefühl zu üben - seien Sie nicht so streng mit sich! Sich selbst fertig zu machen, hilft Ihnen nicht, Ihre Ziele zu erreichen, sondern führt nur dazu, dass Sie sich noch schlechter fühlen. Sprechen Sie mit sich, wie mit einer guten Freundin und nicht wie mit ihrem größten Feind.
Konzentrieren Sie sich auf den Fortschritt und nicht auf die Perfektion - machen Sie sich keine Gedanken darüber, ob Sie perfekt sind, sondern konzentrieren Sie sich darauf, Fortschritte bei der Erreichung Ihrer Ziele zu machen.
Gut genug, ist besser als perfekt. Überlegen Sie sich einen neuen Standard, nach dem Sie sich richten möchten. Anstatt zu sagen, es muss perfekt werden, überlegen Sie sich, was für Sie ein Ergebnis wäre, dass "gut genug" ist.
Identifizieren Sie Ihre "Auslöser" oder die Situationen, die Sie dazu bringen, nach Perfektionismus zu streben. Sobald Sie diese erkannt haben, versuchen Sie, sich einen Plan zu überlegen, wie Sie auf gesunde Weise mit ihnen umgehen können. Probieren Sie aus, ob es Ihnen helfen könnte, sich feste Zeiten zu setzen, in denen bestimmte Dinge erledigt werden dürfen, damit die Verbesserungswut nicht zeitlich ins Unermessliche steigt.
Fehler sind menschlich - Sie sind auch ein Mensch! Erkennen Sie an, dass Fehler zum Leben gehören und dass sie Sie als Person nicht definieren. Jeder macht Fehler - es kommt darauf an, was man danach tut. Die unangenehmen Gefühle, die beim Fehler machen aufkommen, sind absolut normal und Sie dürfen lernen, diese auszuhalten und anzunehmen.
Üben Sie sich in Flexibilität und Gelassenheit. Alle Dinge immer perfekt machen zu wollen ist das Gegenteil von flexibel sein. Flexibilität, also die Fähigkeit auf äußere Umstände mit unterschiedlichen Strategien zu reagieren, führt zu einem größeren Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden. Entscheiden Sie situativ, wann es angemessen ist, Dinge wirklich präzise und sehr genau zu tun und wann es auch in Ordnung ist, eine Aufgabe mit weniger Genauigkeit zu bearbeiten. Auch im Hinblick auf das Annehmen von Hilfe kann es wichtig sein, flexible Ergbnisse in der Ausführung von Aufgaben akzeptieren zu können. Wenn Ihr*e Partner*in Ihnen im Haushalt hilft, dann versuchen Sie seine/ihre Art die Dinge zu tun, anzunehmen, ohne Mikromanagement zu betreiben.
Zu guter Letzt: Versuchen Sie nicht alle diese Tipps perfekt umzusetzen :-) Suchen Sie sich ein oder zwei Ansatzpunkte heraus und probieren Sie sie aus, ohne dass es perfekt klappen muss.
Zusammenfassung
Wenn Sie in die Falle des Perfektionismus getappt sind, denken Sie daran, dass Sie nicht allein sind und dass es einen Ausweg gibt! Perfektionismus ist etwas, mit dem wir alle irgendwann in unserem Leben zu tun haben - aber er muss uns nicht beherrschen.
Nutzen Sie die oben genannten Tipps, um ein bisschen weniger Perfektion in Ihren Alltag zu integrieren und dafür mehr Gelassenheit einziehen zu lassen. Es ist nicht leicht, sich von den Ketten des Perfektionismus zu befreien, aber es lohnt sich auf jeden Fall! Langfristig werden Sie dadurch glücklicher und gesünder sein.
Wenn Sie gern persönlich dabei unterstützt werden möchten, Ihre indivudellen Auswege aus dem Perfektionismusstreben zu finden, dann vereinbaren Sie ein kostenloses Kennenlerngespräch.
Comments